Um bis im Jahr 2030 Hunger und alle Formen von Unterernährung zu beenden, braucht es tiefgreifende Veränderungen in unseren Ernährungssystemen. Mit dem «UN Food Systems Summit» im September 2021 erklärt UN-Generalsekretär António Guterres das offensichtlich fehlerhafte Welternährungssystem nun zur Chefsache. Doch ob der UN-Gipfel die dringend notwendigen Veränderungen wird einleiten können, statt nur das derzeitige Modell der industrialisierten Lebensmittelproduktion zu zementieren, ist höchst fraglich. Lesen Sie hier die Einschätzung unseres Themenbeauftragten für Ernährungs- und Marktsysteme, Malte Reshöft.
Georg Tedeschi
Interview: Corina Bosshard Fotograf: Georg Tedeschi, Thomas Freteur
Die Agenda 2030 hat sich zum Ziel gesetzt, bis im Jahr 2030 Hunger und alle Formen von Unterernährung auf der Welt zu beenden. Wie steht es mit diesem Ziel? Kann es noch erreicht werden? Oder anders gefragt: Wie steht es um die Welternährung?
Leider sieht es nicht gut aus. Nachdem über Jahre die Zahl der hungernden Menschen stetig abgenommen hat, steigen die Zahlen seit 2014 wieder an. Das liegt vor allem am Klimawandel und seinen Auswirkungen auf die Ernte vieler lebenswichtiger Produkte. Dadurch steigen die Preise für Lebensmittel, was wiederum dazu führt, dass viele Menschen sich diese nicht mehr leisten können.
Wie hat sich die COVID-Pandemie auf die Ernährungssituation im Süden ausgewirkt? Was beobachtet ihr in den HEKS-Projekten?
COVID-19 führte dazu, dass im Jahr 2020 rund 120 Millionen Menschen zusätzlich von Hunger betroffen waren. Viele Menschen haben aufgrund der COVID-Massnahmen, wie Lockdowns oder Ausgehverbote, ihre Beschäftigung verloren. Viele der Ärmsten arbeiten im informellen Sektor ohne soziale Absicherung. Aber auch die lokalen Märkte wurden vielerorts geschlossen, was sowohl für viele Kleinbäuerinnen als auch KonsumentInnen verheerende Folgen hatte.
Konkret hatte ich kürzlich Kontakte zu Projekten im Südsudan und in Bangladesch, wo mir berichtet wurde, dass COVID die sowieso angespannte Lage in beiden Ländern noch einmal deutlich verschärft hat.
Ende September 2021 wird nun der UNO-Gipfel für Ernährungssysteme stattfinden. Nun üben einige Hilfswerke Kritik an diesem Gipfel. Warum? Es ist doch gut, wenn das Thema auf der internationalen Bühne behandelt wird, oder?
Es ist sogar sehr gut und wichtig, dass das Thema Ernährung im weitesten Sinne behandelt wird. Auch die neuartige Bezeichnung als «Ernährungssysteme» macht Sinn. Das ist nicht die Kritik.
Die Kritik zielt vor allem auf das Zustandekommen dieses Gipfels. Statt durch eine Initiative der dafür zuständigen demokratisch legitimierten UNO-Gremien, ist der Gipfel eher durch eine Art Hinterzimmer-Deal zwischen dem World Economic Forum (WEF) und dem UNO-Generalsekretär zustande gekommen.
Dem in Rom ansässigen Committee for Food Security (CFS) wurde damit quasi seine bisher federführende Rolle zur Gestaltung internationaler Ernährungspolitiken aus der Hand genommen. Das ist bedenklich, denn im CFS sitzen neben multi-lateralen Akteuren und Vertretern der Privatwirtschaft eben auch Vertreter der Zivilgesellschaft, die die Stimme der Kleinbauern und -bäuerinnen einbringen können.
Die jetzige Organisation des Gipfels führte zu einer deutlichen Schwächung zivilgesellschaftlicher Akteure im Vorfeld und zu einem sehr starken Übergewicht transnationaler Konzerne. Die Stimme der Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, die für rund 70 Prozent der Nahrungsmittelproduktion stehen, hatte zu wenig Gewicht. Das wollen wir ändern.
Was genau erhofft sich die UNO denn von der Privatwirtschaft?
Die UNO erhofft sich von der starken Marktmacht dieser Konzerne einen deutlichen Impuls zur Verbesserung der derzeitigen Situation. Es geht um die Reduktion der Treibhausgase, weniger Verluste in der gesamten Wertschöpfungskette. Damit man mich nicht falsch versteht: Auch wir sind der Überzeugung, dass die Ernährung der Welt nur mit den Konzernen gesichert werden kann. Wir stellen aber infrage, welche Rolle diese Konzerne dabei spielen sollen.
Welches wäre denn das von HEKS propagierte «Rezept gegen den Hunger»? Wer sollte sich der Lösung der Probleme annehmen und welche Rolle sollten die Privatwirtschaft dabei spielen?
Es geht darum, eine Lösung zu finden, die auf der Höhe der anstehenden Herausforderungen ist. Der Ernährungssektor trägt allein ca. ein Drittel zu den Treibhausgasen bei und gleichzeitig ist die Nahrungsmittelproduktion sehr stark vom Klimawandel betroffen. Das zeigt allein die doppelte Verknüpfung zu diesem Thema: einerseits Verursacher, andererseits aber auch Betroffene.
Wir sind der festen Überzeugung, dass wir die diversen Herausforderungen, vor denen die Menschheit steht, tatsächlich nur durch Ernährungssysteme gelöst bekommen, die vor allem durch die beiden Stichworte «Lokalität» und «Kreislaufwirtschaft» geprägt sind. Nicht als exklusive Kriterien, sondern als Zielmarken, in welche Richtung die Entwicklung gehen sollte. Das läuft aber der Logik transnationaler Konzern bisher eher zuwider. Deshalb kann das jetzige, auf starken Im- und Export beruhende Ernährungssystem so auch nicht nachhaltig werden. Ebenso wenig die auf starken Input beruhenden Produktionssysteme.Hier sind vor allem sogenannte «agrarökologische» Lösungen wichtig, die auf die vorhandenen lokal verfügbaren Ressourcen bauen und in denen die Rolle von kleinbäuerlichen Gemeinschaften als Hauptnahrungsmittelproduzenten klar anerkannt und entsprechend gefördert wird.
Wir hoffen, dass diese Themen beim Gipfel im September eine wichtige Rolle spielen, auch in den Verhandlungen mit den Konzernen.
Thomas Freteur
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Veranstaltung
Welternährungstag 2021
Am 16. Oktober ist Welternährungstag. HEKS ist Mitorganisatorin einer dreitägigen Veranstaltungsreihe vom 18. bis 20. Oktober 2021. Die Teilnehmenden besuchen unter anderem die «Weltacker» in Basel, Bern und Vaduz und suchen nach Möglichkeiten, wie man das Menschenrecht auf eine «gesunde und gerechte Ernährung für alle» in die Tat umsetzen kann.
Die «Agenda 2030» der UNO ist ein globaler Plan zur Förderung einer nachhaltigen Entwicklung bis 2030. Sie wurde 2015 von den UNO-Mitgliedsstaaten verabschiedet. Die darin festgehaltenen 17 Ziele und 169 Unterziele – die «Sustainable Development Goals» (SDGs) – berücksichtigen alle drei Dimensionen einer nachhaltigen Entwicklung: ökonomische, soziale sowie ökologische Aspekte. Das übergeordnete Ziel ist, Niemanden zurückzulassen.