Stellungnahme vom 5. Juli 2023

Erste Ergebnisse der Untersuchung zur Situation im Rechtsschutz des Bundesasylzentrums Nordwestschweiz (BAZ NWCH) 

Die HEKS-Rechtsvertretung im Bundesasylzentrum Nordwestschweiz (BAZ NWCH) war Gegenstand kritischer Medien-Berichterstattung Anfang Juni. Diese bezog sich auf nicht-begleitete Dublin-Gespräche von Asylsuchenden, auf hohe Arbeitsbelastung und Fluktuation der Mitarbeitenden sowie auf Management- und Führungsfehler, welche im Zusammenhang mit diesen Problemen begangen wurden. HEKS hat am 4. Juni eine interne Untersuchung eingeleitet, deren vorläufige Ergebnisse nun vorliegen. Sie basiert auf Interviews mit den Leitungspersonen, einer Umfrage bei allen Mitarbeitenden des Rechtsschutzes BAZ NWCH sowie auf Gruppendiskussionen und statistischen Materialien. Die Ergebnisse der Untersuchung liefern Anstösse zu kurzfristigen Lösungsmassnahmen, aber auch zu längerfristigen Organisationsentwicklungsprozessen.  

Starker Anstieg der Fallzahlen und schwierige Rahmenbedingungen  

Die untersuchten Probleme stehen im Kontext eines starken Anstiegs der Fallzahlen im Asylbereich, u.a. angesichts des Ukraine-Krieges, seit Mai 2022 sowie der daraus folgenden sehr starken Erhöhung von Konsultationen des Rechtsschutzes mit Klient:innen. Dabei muss festgehalten werden, dass diese Entwicklungen kaum vorhersehbar waren. Damit war eine effektive Planung für den Rechtsschutz äusserst schwierig. Die erforderliche enorme Schwankungstauglichkeit war eine grosse Belastung für die Elastizität der Organisation.  

Verschärfend wirkten sich die mangelhaften Arbeitsbedingungen für die Mitarbeitenden des Rechtsschutzes aus. So konnten aufgrund der Arbeitsmarktsituation nicht genügend neue Mitarbeitende rekrutiert werden, was die Arbeitsbelastung für das bestehende Team stark erhöhte. Zudem konnten für die neuen Mitarbeitenden nicht ausreichend Arbeitsplätze zur Verfügung gestellt werden, was das Arbeitsklima weiter belastete. Die hohe Arbeitsbelastung war einer der Gründe für die überdurchschnittlichen Fehlzeiten der Mitarbeitenden und die hohe Fluktuation.  

Erschwerend wirkte sich die mehrmalige Änderung der HEKS-internen Gesamtverantwortung für die Rechtsschutzmandate in den Bundesasylzentren aus. Die Kommunikation zwischen der Leitung des HEKS-Rechtsschutzes BAZ NWCH und der HEKS-Zentrale in Zürich sowie eine klare Linie für die Entwicklung einer konsistenten Praxis im Rechtsschutz wurden damit erschwert.  

HEKS Rechtsberatungsstelle für Asylsuchende St. Gallen/Appenzell (HEKS Nr. 540.001)
HEKS

Anpassung der Rechtspraxis und Verfahrensbeschleunigungen   

Im August 2022 wurden als Reaktion auf die nicht ausreichenden personellen Ressourcen im Rechtsschutz BAZ NWCH verschiedene Verzichtsmassnahmen beschlossen:  

  • Massive Reduzierung der Begleitung an Dublin-Gespräche  
  • Punktuell keine Begleitung an Anhörungen  
  • Betreuung von unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden (UMA) nicht nur durch spezifisch ausgebildete Mitarbeitende  

Im Oktober 2022 wurde HEKS-intern als Sofortmassnahme die Managementstruktur gestärkt. Gleichzeitig erhöhte sich der Druck auf die Mitarbeitenden des Rechtsschutzes noch einmal, da ein sprunghafter Anstieg der Asylgesuche einsetzte. 

Die angepasste Praxis im Rechtsschutz aufgrund der von HEKS implementierten Verzichtsmassnahmen führte bei Mitarbeitenden zu Irritationen und Zweifeln an deren Rechtmässigkeit und an deren Übereinstimmung mit den ethischen und politischen Werten von HEKS. Es entstand der Eindruck, dass die Entscheidträger:innen bei HEKS zumindest teilweise die Auftragserfüllung höher gewichtet haben als die Qualität der Rechtsvertretung und die Rechte der Schutzsuchenden.  

Interne und externe Abstimmungsprobleme    

Gemäss Untersuchungsergebnissen besteht Grund zur Annahme, dass sowohl bei der Leitung Rechtsschutz BAZ NWCH als auch ihren Vorgesetzten die rechtliche Einschätzung der neuen Rahmenbedingungen und die Gewichtung der Ansprüche von intern und extern nicht adäquat waren. Die Kommunikation und die Abstimmung zwischen Leitung Rechtsschutz und ihren Vorgesetzten scheint in dieser sehr entscheidenden Periode für die Entwicklung einer neuen Praxis nicht ausreichend gewesen zu sein.  

Der Unterstützungsbedarf für den Rechtsschutz BAZ NWCH wurde in der HEKS-Zentrale zu wenig erkannt. Die Leitung des Rechtsschutzes BAZ NWCH hatte letztlich in Managementfragen, asylrechtlichen Belangen sowie in HR- oder ICT-Fragen zu wenig Unterstützung durch die HEKS-Zentrale. Die daraus resultierende Praxis führte dazu, dass das Vertrauen vieler Mitarbeitender des Rechtsschutzes BAZ NWCH in eine rasche Verbesserung der Arbeitsbedingungen verloren ging. 

Schlussfolgerungen und Massnahmen  

HEKS bedauert die Mängel, welche in der Nordwestschweiz sowohl im Betrieb des Rechtsschutzes für die Mitarbeitenden wie auch in den Verfahren für die Asylsuchenden entstanden sind. Die daraus resultierenden Situationen stehen in keiner Weise in Übereinstimmung mit den Qualitätsansprüchen, Arbeitsprinzipien sowie ethischen Werten von HEKS und sind somit nicht akzeptabel. Demgegenüber steht die Situation des ebenfalls von HEKS betriebenen Rechtsschutzes im BAZ Ostschweiz, wo derartige Mängel nicht aufgetreten sind. Allerdings ist klar festzuhalten, dass in beiden Rechtsschutzmandaten keine Vertragsverletzungen gegenüber dem Staatssekretariat für Migration (SEM) oder finanziellen Unregelmässigkeiten zutage getreten sind.   

HEKS zieht die Konsequenzen aus diesen Erkenntnissen und wird sowohl kurzfristige Sofortmassnahmen zur Stabilisierung des Betriebs des Rechtsschutzes im BAZ NWCH und zur Wiederherstellung der notwendigen Qualitätsstandards implementieren als auch eine weitergehende längerfristige Organisationsentwicklung in Gang setzen. Die Verfahren müssen in jedem Fall den juristischen und ethischen Grundsätzen des Rechtsschutzes von HEKS Rechnung tragen. Die Auftragserfüllung muss auf Basis dieser Grundsätze erfolgen. Zu den Sofortmassnahmen gehören:    

  • Der Druck auf den Rechtsschutz muss reduziert und das Team Rechtsschutz BAZ NWCH entlastet werden. Damit soll in den kommenden Wochen der Betrieb sichergestellt und die Verfahrensqualität gewährleistet werden. Die Umsetzung muss durch HEKS und SEM regelmässig überprüft werden.  
  • Stabilisierung des bestehenden Teams (Fehlzeiten, Fluktuation) durch Verbesserung der Arbeitsbedingungen (in Bezug auf Arbeitsbelastung, Arbeitsplatz und Zuzug von zusätzlichen Fachressourcen)  
  • Verbesserte Arbeitsplatzsituation und Infrastruktur durch Bezug neuer Räumlichkeiten voraussichtlich Mitte August 2023  
  • Entlastung der Administration des Planungswesens durch Einführung einer neuen Planungssoftware  
  • Rekrutierung zusätzlicher Mitarbeitender und Verstärkung des HR-Supports  
  • Verbesserte Einarbeitung neuer Mitarbeitender  
  • Führungsweiterbildungen für alle Führungspersonen  
  • Verbesserte Begleitung des Teams durch mehr Supervisionsangebote, mehr Präsenz, Support und Austausch durch die HEKS-Zentrale, mehr Zeit für Teamaustausch und die Etablierung einer Begleitgruppe aus dem BAZ-Team für die Umsetzung der Massnahmen  

Die Leitungsperson des Rechtsschutzes BAZ NWCH wird nach ihrer Beurlaubung eine Stabsfunktion im Bereich Inland zum Thema Rechtsschutz innerhalb HEKS übernehmen, in der sie ihre ausgewiesene Fachkompetenz und ihre Erfahrungen ideal einbringen kann. Ihre aktuelle Position wird mit einer Interimslösung besetzt.  

Zusätzlich zu den kurzfristigen Sofortmassnahmen arbeitet HEKS an der Organisationsentwicklung vor Ort im Rechtsschutz BAZ NWCH sowie an der Schnittstelle von HEKS-Zentrale und Rechtsschutz BAZ NWCH. Hier müssen mittelfristig Verbesserungen entwickelt werden, um die Schwankungstauglichkeit in Bezug auf Extremsituationen im Asylbereich besser gewährleisten zu können. Damit sollen die Verfahrensqualität und der Rechtsschutz für Asylsuchende nachhaltig sichergestellt sowie die Arbeitsbedingungen und die Zufriedenheit der Mitarbeitenden verbessert werden.   

Lorenz Kummer
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