HEKS-Rechtsberatungsstelle für Asylsuchende gewinnt Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in seinem Urteil vom 4. Juli die Schweiz in drei von vier Fällen verurteilt, in denen das Staatssekretariat für Migration (SEM) Personen den Familiennachzug verweigert hatte, weil sie teilweise von der Sozialhilfe abhängig waren. Zwei der vier Beschwerden hatte die HEKS-Rechtsberatungsstelle für Asylsuchende in Lausanne (SAJE) eingereicht.
Vier Fragen an Karine Povlakic, Rechtsvertreterin SAJE
Zwei der vier Klagen, zu denen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am 4. Juli ein Urteil veröffentlichte, wurden durch die HEKS-Rechtsberatungsstelle für Asylsuchende in Lausanne (SAJE) eingereicht. Reicht SAJE häufig Beschwerden beim EGMR ein?
Nein, SAJE reicht nur selten Beschwerden beim EGMR ein, denn die Verfahren sind langwierig und die Erfolgsaussichten sind sehr gering. Eine Beschwerde beim EGMR machen wir in der Regel nur dann, wenn eine rechtliche Grundsatzfrage vorliegt, die viele Fälle betrifft. Wir sprechen in diesem Zusammenhang auch von strategischer Prozessführung.
Warum hat SAJE in den beiden vorliegenden Fällen Klage beim EGMR eingereicht?
SAJE reichte zwei Beschwerden ein, die zwei unterschiedliche Situationen betreffen: Ein Fall betrifft den Familiennachzug für anerkannte Flüchtlinge bei fehlender finanzieller Eigenständigkeit. In diesem Fall hiess der EGMR die Beschwerde gut. Der zweite Fall betrifft die unterschiedliche Behandlung von anerkannten Flüchtlingen mit einer F-Bewilligung und solchen mit einer B-Bewilligung beim Familiennachzug. Hier hat der EGMR die Beschwerde leider abgelehnt.
Was verändert sich nach dem positiven Urteil konkret für die Klägerin im ersten Fall?
Die Schweiz ist an das Urteil des EGMR gebunden und muss es umsetzen. Die Beschwerdeführerin kann ihre Tochter nun endlich in die Schweiz holen. Das ganze Verfahren für den Familiennachzug dieses Kindes hat 13 Jahre gedauert. Den ersten Antrag an die zuständige Behörde hat die Beschwerdeführerin im Jahr 2010 gestellt.
Hat dieses Urteil auch Einfluss auf die zukünftige Rechtsprechung in der Schweiz?
Ja, der Familiennachzug von vorläufig aufgenommenen Personen kann künftig auch dann bewilligt werden, wenn sie finanziell nicht unabhängig sind. Die Schweiz muss künftig die Ursache für die (teilweise) Sozialhilfeabhängigkeit genau prüfen und in ihren Entscheid miteinbeziehen. Dies verbessert die Chancen auf Familiennachzug, insbesondere für
- Grossfamilien, bei denen ein Elternteil zu 100 Prozent erwerbstätig ist, dessen Einkommen aber nicht ausreicht, um die finanzielle Unabhängigkeit der ganzen Familie zu gewährleisten.
- Personen, die zu 100 Prozent arbeitsunfähig sind und deren IV-Rente nicht ausreicht.
- Alleinerziehende, die nur Teilzeit arbeiten, aber dadurch ihren Willen zur Integration im Rahmen ihrer Möglichkeiten zeigen. In dem vom SAJE vertretenen Fall ging es um eine somalische Frau, die Analphabetin war und keine Berufsausbildung hatte. Das Gericht war der Ansicht, dass sie mit ihrer 50%-Stelle als Reinigungskraft alle ihr zumutbaren Anstrengungen unternommen hatte und ihr die fehlende finanzielle Unabhängigkeit nicht vorgeworfen werden könne.