«Das Dorf Sar'a, immer vor unseren Augen»
Das Gespräch mit Michael Kaminer führte Hanspeter Bigler, Bereichsleiter Kommunikation und Mobilisierung von HEKS und Co-Produzent des Films «Zwei Träume – eine israelisch-palästinensische Dorfgeschichte»
Du hast also erst Jahre später mit dieser Arbeit begonnen?
Ja, es hat zwei oder drei Jahre gedauert. Auslöser waren ein paar Begegnungen. Ich erinnere mich, dass ich am Eingangstor des Kibbuz ein paar Arbeiter traf, die an der Brücke arbeiteten, um sie zu renovieren. Ich begann mit ihnen zu reden, und einer von ihnen war aus der Gegend von Hebron. Er sagte mir, dass sein Vater hier geboren wurde. Das war das erste Mal, dass ich jemanden aus Sar’a getroffen habe. Ich dachte mir: «Hey, das ist kein Zufall. Dem muss ich nachgehen.»
Etwas später kamen einige palästinensische Ärzte für einen zweimonatigen Hebräischkurs in unseren Kibbuz. Sie sollten Hebräisch lernen, damit sie in einem israelischen Krankenhaus arbeiten konnten. Sie besuchten jede Woche Familien im Kibbuz, um die Konversation auf Hebräisch zu üben. Ich meldete mich freiwillig, um jemanden aufzunehmen. So lernte ich Mohammed kennen. Auch sein Vater war hier geboren. Das fand ich sehr interessant und wollte deshalb einen Film über diesen Kurs machen. Aber Mohammed sagte zu mir: «Ich kann nicht in deinem Film mitmachen, weil mein Vater hier geboren wurde. Ich könnte etwas sagen, das die Gastgeber hier im Kibbuz verletzen würde, und das will ich nicht.» Und ich denke, das war ein weiterer Auslöser.
Und das war der letzte Auslöser, der dich zu deinen Nachforschungen motiviert hat?
Nein. Hast du noch Geduld für zwei weitere? (Lacht). Wir haben eine Facebook-Gruppe des Kibbuz, die allerdings nicht ich gegründet habe. Dort wurde zum 80. Geburtstag für einen der Gründer des Kibbuz eine spezielle Präsentation gepostet. Dieser Mann hatte die meisten Bilder aus der Gründungszeit des Kibbuz’ fotografiert. Einige davon kann man auch in meinem Film sehen. Ich erinnere ich mich bis heute daran, dass auf einem der Bilder, das den anderen Hügel des Dorfes zeigte, geschrieben stand: «Das Dorf Sar'a, immer vor unseren Augen». Und dann verstand ich. Sie lebten mit dem Dorf, und es störte sie die ganze Zeit.
Und dann feierten wir jedes Jahr den Geburtstag des Kibbuz. Dieser Gründungstag ist der sechste oder siebte Dezember. Alle gehen auf den Hügel, wo das Dorf stand. Und wir nannten es: «Wir gehen zum alten Kibbuz Tzor’a». Sie machten einen grossen Geburtstagskuchen für den Kibbuz, und es wurde im Haus des Mukhtars, des früheren Dorfvorstehers, gefeiert. Ich erinnere mich, dass ich neben Ela sass, einer der Gründerinnen des Kibbuz, und ich begann mit ihr über die Fotos zu sprechen, die ich in dieser Präsentation gesehen hatte. Und sie begann zu erzählen: «Es war sehr schwer, hier zu leben. Wir mussten jede Nacht Wache schieben. Es war sehr beängstigend. Die Palästinenser versuchten die ganze Zeit, zurückzukommen, und wir hatten Angst. Wir war sehr froh, dass der Kibbuz später vom Hügel ins Tal verschoben wurde.»
Ich habe dann ein paar Fotos gemacht und sie in die Facebook-Gruppe des Kibbuz’ gestellt. Einigen Leuten hat das gar nicht gefallen. Und sie schimpften: «Stellt hier nicht solche Fotos hinein und schreibt nicht von einem palästinensisches Dorf! Das ist nicht die Sache dieser Gruppe! Wir beschäftigen uns nur mit dem Kibbuz, nicht mit dem, was vorher war!» Und dann habe ich angefangen, mit ihnen heftig zu streiten. Ich verliess die Gruppe, gründete eine neue Facebook-Gruppe des Kibbuz und schrieb: «In dieser Gruppe könnt ihr jedes Foto veröffentlichen, das mit dem Kibbuz zu tun hat». Und heute ist es die eigentliche Facebook-Gruppe des Kibbuz.
Das waren also deine Auslöser, um die Geschichte des Kibbuz zu erforschen?
Es gab noch einen weitere. Ein amerikanischer Verwandter von Aronele, einem der Kibbuzgründer, kam in den Kibbuz und sagte zu mir: «Weisst du was? Du solltest das dokumentieren.» Und ich antwortete: «Du hast recht.» Und dann sagte er: «Ich schicke dir 500 Schekel. Fang an, es zu dokumentieren.» Und ich sagte: «Ok, du gibst fünfhundert und ich gebe fünfhundert.». Damit habe ich gestartet. Letztendlich kam zwar das meiste Geld von mir, aber es war ein Anfang. Und dann bin ich mit den Gründungsmitgliedern des Kibbuz auf den Hügel gegangen und habe einfach mit ihnen darüber geredet, was dort war. Ich wusste damals noch nicht, dass ich daraus einen Film machen würde. Die Idee war eigentlich, mit der Gründergeneration zu sprechen, um zu verstehen, warum sie uns all die Jahre nichts davon erzählt haben.
Ich nehme an, es gab auch negative Reaktionen aus dem Kibbuz? Wie haben sie reagiert, als du an diesem Film gearbeitet hast?
Nun, ich habe keinen Zettel an die Tafel des Kibbuz gehängt, um zu informieren, dass ich einen Film mache oder etwas in der Art. Ich habe ganz leise angefangen, habe einfach die Gründer des Kibbuz angerufen und ihnen gesagt: «Ich möchte nur, dass ihr, wenn ihr Zeit habt, mit mir auf den Berg geht und über das erste Jahr des Kibbuz sprecht. Und über die Beziehung zum palästinensischen Dorf.» Die meisten von ihnen waren sofort einverstanden, da sie im Ruhestand waren und Zeit hatten.
In deinem Film ist ein Motto dieses Gedicht von Mahmoud Darwish, in dem es heisst: «Ist es nicht möglich, dass sich zwei Träume ein Schlafzimmer teilen können?» Wie bist du auf diesen Gedanken gekommen?
Ich war in einem Seminar mit 15 Palästinenser:innen und 15 Juden und Jüdinnen. Alle kamen mit einem eigenen Projekt und versuchten, mit der Unterstützung der anderen und der Seminarleitung einen Durchbruch im eigenen Projekt zu erzielen. Mein Projekt war der Film über den Kibbuz. Zu diesem Zeitpunkt steckte ich tatsächlich ein wenig fest. Ich hatte viele Dreharbeiten hinter mir und der Film war noch nicht geschnitten. Und vor allem wusste ich nicht, wer das Publikum war, das ich mit diesem Film erreichen wollte.
Erst in diesem Seminar habe ich verstanden, dass ich den Film vor allem für meine Gemeinschaft, die Kibbuzbewohner:innen, mache und für kein anderes Publikum. Im Seminar habe ich eine Frau getroffen und sie hat dieses Gedicht vorgetragen, und ich habe sie gebeten, es mir zu geben, weil ich es mochte. Die Worte haben mich berührt. Und seitdem mache ich mir das zu eigen.