Schweiz muss humanitäre Verantwortung wahrnehmen
Seit der Machtübernahme der Taliban am 15. August 2021 hat sich die Menschenrechtslage in Afghanistan massiv verschlechtert, insbesondere für Frauen. Täglich fliehen Tausende von Menschen, Hunderttausende harren seit Monaten in den Nachbarländern Iran und Pakistan aus. Auch dort sind sie nicht sicher und leben unter prekären Bedingungen. Angesichts der weitreichenden Verfolgung und der immensen Zahl der Betroffenen fordert HEKS von Bundesrat und Parlament, dass die Schweiz ihre humanitäre Verantwortung wahrnimmt und sichere und legale Fluchtwege für verfolgte Afghan:innen schafft.
Reza Sayyid* hatte Glück. Dem 32-jährigen Entwicklungshelfer, seiner Frau und den gemeinsamen Kindern gelang die Flucht. Mit Unterstützung der HEKS-Rechtsberatungsstelle für Asylsuchende in Basel (BAS) beantragte er ein humanitäres Visum für die Schweiz. Weil Sayyid für eine Schweizer NGO gearbeitet hatte, wurde ihm das humanitäre Visum bewilligt. Im November 2021 konnte die Familie in die Schweiz einreisen.
«Ich bin froh, dass wir in der Schweiz in Sicherheit sind», sagt Sayyid, «doch glücklich scheine ich nur gegen aussen. Innerlich mache ich mir ständig Sorgen, vor allem um meine Eltern und meinen jüngeren Bruder.»
Sayyids Mutter arbeitete in Afghanistan als Frauenrechtsaktivistin für internationale Organisationen. Sie wurde von den Taliban bedroht. Ende 2021 flüchteten sie, ihr Mann und der jüngste Sohn nach Iran. In verschiedenen Ländern haben Sayyids Eltern und sein Bruder ein humanitäres Visum beantragt, auch in der Schweiz. Bisher ohne Erfolg. Inzwischen ist ihr Aufenthaltsvisum in Iran abgelaufen, ihre Ersparnisse sind aufgebraucht. Sie müssen sich verstecken. Werden sie von den iranischen Behörden gefunden, droht ihnen die Abschiebung nach Afghanistan – und dort der Tod.
* Name von der Redaktion geändert.
Lange Verfahren und administrative Hürden
Zudem verzögern hohe administrative Hürden die Verfahren für Familienzusammenführungen und humanitäre Visa erheblich, teilweise über mehrere Jahre.
Die Schweizer Behörden und Vertretungen im Ausland stellen hohe Anforderungen an die Beschaffung heimatlicher Originaldokumente, die teilweise schwer oder sogar unmöglich zu erfüllen sind. Für die Visumserteilung müssen Pässe, Ehebüchlein, teilweise auch die Personalausweise oder Todesscheine der Eltern und zahlreiche weitere Dokumente eingereicht werden. Um an diese Dokumente zu gelangen, verlangt die Schweiz auch von gefährdeten Afghan:innen, mit ebendieser Taliban-Regierung, von der sie verfolgt werden, in Kontakt zu treten. Darauf sollte verzichtet werden.
Zahlreiche Klient:innen der HEKS-Rechtsberatungsstellen berichten zudem, dass die entsprechenden Dokumente nicht über legale Wege erlangt werden können, sondern gegen Bestechung bei der Taliban-Regierung gekauft werden müssen. Der Wert und die Glaubwürdigkeit dieser Dokumente sind daher stark in Frage gestellt. Es ist ein Widerspruch in sich, dass die Schweiz von geflüchteten Afghan:innen nach wie vor zahlreiche Dokumente verlangt, die ausschliesslich von einer Regierung ausgestellt werden können, die weder von der Schweiz selbst noch von einem anderen Staat offiziell anerkannt wird.
Familienzusammenführungen und Gesuche für humanitäre Visa werden aber auch durch langwierige Verfahrensschritte und die lange Bearbeitungsdauer der Schweizer Behörden und Vertretungen verzögert. Gemäss der Erfahrung der HEKS-Rechtsberatungsstellen dauern die Verfahren der Familienzusammenführung aktuell für Afghan:innen mit einer Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz rund zwei bis drei Jahre, vom Zeitpunkt der Gesuchstellung bis zur tatsächlichen Einreise der Familienmitglieder in die Schweiz. Eine derartige Verzögerung der Familiennachzugsverfahren ist für die Betroffenen unzumutbar. Insbesondere für minderjährige Kinder, um die es bei Familienzusammenführungen häufig geht, ist eine derart lange Wartefrist verheerend: Die Jahre, in denen ein Kind von einem Elternteil getrennt ist, sind unwiederbringlich verloren. Je länger die zurückgebliebene Familie zudem in einer Notsituation verbleibt, desto stärker beeinträchtigt dies die psycho-emotionale Entwicklung eines Kindes, mit langfristigen Folgen.
Die Praxis der Schweizer Behörden
Kurz nach der Machtübernahme durch die Taliban entschied das Staatssekretariat für Migration (SEM), Wegweisungen nach Afghanistan vorläufig auszusetzen und auf bereits geplante Rückführungen zu verzichten. Aktuell erhalten praktisch alle Afghan:innen, die in der Schweiz ein Asylgesuch stellen und für die die Schweiz zuständig ist, Schutz in der Schweiz. Gemäss Asylstatistik des SEM wurde im ersten Halbjahr 2023 jedoch nur neun Prozent aller Afghan:innen Asyl gewährt (Ausweis B), die restlichen Personen erhielten eine vorläufige Aufnahme (Ausweis F).
Personen mit einer vorläufigen Aufnahme erhalten zwar Schutz und können in der Schweiz bleiben. Der Status ist aber mit starken rechtlichen Einschränkungen verbunden, die das Leben und die Integration der Betroffenen enorm erschweren. Beim Familiennachzug sind die Hürden für vorläufig Aufgenommene besonders hoch: Ehepartner:in und Kinder dürfen frühstens nach einer Wartefrist von drei Jahren nachgezogen werden und auch dann nur, wenn hohe finanzielle Bedingungen erfüllt werden können. Das Bundesverwaltungsgericht urteilte im Dezember 2022, dass die dreijährige Wartefrist grundsätzlich zu lange ist und mit dem Recht auf Familienleben (Art. 8 EMRK) nicht vereinbar (siehe HEKS-Medienmitteilung vom 13. Dezember 2022). Wie dieses Urteil umgesetzt wird und ob die Behörden auch Notlagen berücksichtigen, in denen sich zurückgebliebene Familienangehörige allenfalls befinden, bleibt zu beobachten.
Vor kurzem, im Juli 2023, informierte das SEM, dass es seine Praxis gegenüber weiblichen Asylsuchenden aus Afghanistan anpassen wird. Neu soll afghanischen Mädchen und Frauen aufgrund der gravierenden Einschränkungen ihrer Grundrechte in der Regel Asyl gewährt werden. Dies entspricht auch der Praxis anderer europäischer Länder. HEKS begrüsst dieses Vorhaben, wird dessen Umsetzung genau beobachten und Afghaninnen bei der Einreichung von entsprechenden Gesuchen unterstützen.
Asylpraxis in Bezug auf afghanische Frauen und Mädchen
Im Juli 2023 informierte das SEM, dass es seine Praxis gegenüber weiblichen Asylsuchenden aus Afghanistan anpasst: Seither wird afghanischen Mädchen und Frauen in der Regel Asyl gewährt. Die Eskalation der geschlechterspezifischen Diskriminierung und Gewalt in Afghanistan führte das SEM zur Einschätzung, dass afghanische Frauen und Mädchen sowohl als Opfer diskriminierender Gesetzgebung als auch einer religiös motivierten Verfolgung betrachtet werden können. Im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention ist ihnen deshalb die Flüchtlingseigenschaft anzuerkennen. Dies entspricht der Empfehlung der Europäischen Asylagentur (EUAA) sowie der Praxis der meisten westeuropäischen Staaten (u.a. Deutschland, Österreich, Italien, Frankreich, Schweden, Finnland, Dänemark, Belgien, Lettland, Malta, Spanien und Portugal). HEKS begrüsst diese Praxisänderung und unterstützt Afghaninnen bei der Einreichung von entsprechenden Gesuchen. Ob eine asylsuchende Person die Voraussetzungen für die Gewährung von Asyl erfüllt, wird nach wie vor in jedem Einzelfall geprüft. Dabei wird auch geprüft, ob in einem Drittstaat bereits eine sichere Aufenthaltsmöglichkeit besteht. Die Flüchtlingseigenschaft erfüllt, wer im Heimat- oder Herkunftsstaat ernsthafte Nachteile zu befürchten hat.
Reisedokumente für papierlose Afghan:innen
Darüber hinaus hat das Bundesverwaltungsgericht im Juli 2023 in Bezug auf afghanische Staatsangehörige in der Schweiz entschieden, dass ihnen nicht zugemutet werden kann, zur Beschaffung eines Reisepasses nach Afghanistan zu reisen. Sie gelten daher als schriftenlos und erhalten künftig in der Regel Reisedokumente von den Schweizer Behörden (HEKS Stellungnahme vom 19. Juli 2023). Dank dieses Urteils können Afghan:innen endlich wieder Verwandte im Ausland besuchen.
Insgesamt hat die Schweiz damit bereits wichtige Schritte unternommen, um Afghan:innen, die sich bereits in der Schweiz aufhalten, zu schützen. Die Schweiz hat aber auch eine humanitäre Verantwortung gegenüber den verfolgten Afghan:innen, die in Afghanistan oder in den Nachbarländern Iran und Pakistan ausharren und um ihr Leben fürchten. Gerade für besonders verletzliche Personen - dazu gehören unter anderem Frauen mit kleinen Kindern, alte oder kranke Menschen – ist es ohne Hilfe kaum möglich, ein sicheres Land zu erreichen und dort Asyl zu beantragen.
Angesichts der weitreichenden Verfolgung, der massiven Einschränkungen und Verletzungen der Grundrechte und der hohen Gefährdung von Afghan:innen auch in den Nachbarländern appelliert HEKS an Bundesrat und Parlament, endlich mehr legale Zugangswege zu schaffen für Afghan:innen, die von den Taliban verfolgt werden.
Die Forderungen von HEKS
- Die aktuelle Praxis bei der Erteilung humanitärer Visa ist zu restriktiv und muss angepasst werden. Humanitäre Visa sollten grundsätzlich an Personen mit einem hohen Risikoprofil erteilt werden, auch wenn sie bereits aus Afghanistan nach Iran oder Pakistan geflüchtet sind. Denn ohne gültige Aufenthaltsbewilligung sind Afghan:innen in Iran oder Pakistan nicht in Sicherheit und müssen jederzeit eine Ausschaffung nach Afghanistan befürchten, wenn sie von den dortigen Behörden entdeckt werden.
- Die Verfahren für Familienzusammenführung und humanitäre Visa müssen beschleunigt und die administrativen Hürden gesenkt werden. Angesichts der hohen Gefährdungslage der Betroffenen müssen Verfahren zur Familienzusammenführung und Erteilung humanitärer Visa beschleunigt werden, insbesondere wenn Kinder involviert sind. Entsprechende personelle Ressourcen bei den Schweizer Behörden im In- und Ausland müssen zur Verfügung gestellt werden. Zudem muss die Schweiz diplomatische Unterstützung bei der Ausreise aus Drittstaaten leisten, wenn die Ausreise trotz Schweizer Visum durch den Aufenthaltsstaat erschwert wird. Dies ist häufig bei Personen der Fall, die nicht für die gesamte Dauer ihres Aufenthalts im Drittstaat über eine gültige Aufenthaltsbewilligung verfügten.
- Dem besonderen Schutzbedarf von Mädchen und Frauen muss Rechnung getragen werden. Mädchen und Frauen benötigen aufgrund der massiven Einschränkung ihrer Grundrechte in Afghanistan besonderen Schutz. Die im Juli 2023 kommunizierte Praxisänderung des SEM, afghanischen Mädchen und Frauen generell Asyl zu gewähren, trägt dieser Erkenntnis Rechnung. Sie muss nun auch bei der Prüfung von Anträgen für humanitäre Visa sowie bei Familienzusammenführungen angewandt werden. Konsequenterweise darf von afghanischen Frauen und Mädchen auch im Zusammenhang mit hängigen Visumsverfahren, zum Beispiel für die Familienzusammenführung, nicht verlangt werden, dass sie zwecks Dokumentenbeschaffung die Taliban-Regierung kontaktieren müssen.
- Die Asylgesuche aller afghanischer Geflüchteter müssen sorgfältig und individuell geprüft werden. Die Situation in Afghanistan ist nach der Machtübernahme durch die Taliban sehr komplex. Eine Gefährdung kann gemäss Analyse der europäischen Asylagentur EUAA aufgrund zahlreicher Risikofaktoren bestehen. Die Schweizer Anerkennungsquote für afghanische Asylsuchende ist mit neun Prozent im ersten Halbjahr 2023 sehr tief. Gerade wegen der grossen Unterschiede in der Rechtsstellung von vorläufig Aufgenommenen (Ausweis F) und anerkannten Flüchtlingen (Ausweis B), insbesondere beim Familiennachzug, müssen die Gesuche aller afghanischen Asylsuchenden sorgfältig auf das Vorliegen von individuellen Risikofaktoren geprüft und, falls vorhanden, Asyl gewährt werden.
- Das Resettlement-Programm muss so rasch wie möglich wieder aufgenommen werden. Das Resettlement-Programm ermöglicht in enger Zusammenarbeit mit dem UNHCR besonders verletzlichen Personen, die in Drittstaaten wie der Türkei oder dem Libanon bereits als Flüchtlinge anerkannt sind, eine legale und sichere Einreise in die Schweiz, wo sie Schutz erhalten. Dies ist für besonders gefährdete und vulnerable Afghan:innen ohne Schweizbezug der einzige sichere und legale Fluchtweg in die Schweiz. HEKS fordert deshalb, dass die Schweiz die gegenwärtige Sistierung von Resettlement-Einreisen in Absprache mit den Kantonen so rasch wie möglich aufhebt (siehe HEKS-Stellungnahme vom 20. Juni 2023).
Die Zitate und Fallbeispiele in diesem Text stammen alle von Klient:innen der HEKS--Rechtsberatungsstellen.