Stellungnahme vom 13. Dezember 2023

Asyl für afghanische Frauen und Mädchen

Nächste Woche diskutiert das Schweizer Parlament in einer Sondersession über die Asylpraxis gegenüber afghanischen Frauen. Afghaninnen werden durch das Taliban-Regime systematisch diskriminiert und verfolgt. HEKS begrüsst daher den Entscheid des Staatssekretariats für Migration (SEM), afghanische Mädchen und Frauen in der Regel als Flüchtlinge zu anerkennen. Die Schweiz hat eine rechtliche und humanitäre Verpflichtung, Menschen – und in diesem Fall Afghaninnen – vor Verfolgung zu schützen. 

Seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 hat sich die Menschenrechtslage in Afghanistan massiv verschlechtert, insbesondere für Frauen. Frauen und Mädchen werden von den Taliban aus dem öffentlichen Raum verbannt. Ihre grundlegenden Rechte auf Meinungsäusserung, Bewegungsfreiheit, Gesundheit, Arbeit und Bildung werden systematisch verletzt. Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte die zunehmende Gewalt gegen Frauen und Mädchen jüngst in einer detaillierten Analyse. Frauen, die in die Schweiz geflüchtet sind, berichten HEKS von einem kaum vorstellbaren Ausmass an systematischer und alltäglicher Gewalt und Diskriminierung. 
So auch Shabnam Simia, eine afghanische Juristin, die 2021 in die Schweiz geflüchtet ist:   
Afghan:innen schützen

Frauen in Afghanistan haben keinerlei Rechte mehr. Sie sind zuhause eingesperrt. Das ist kein menschliches Leben mehr. Alle Frauen in Afghanistan, mit denen ich spreche, sagen mir: ‘Wir sind tot. Für uns gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Leben und Tod.

HEKS war deshalb erleichtert, als das Staatssekretariat für Migration (SEM) im Juli 2023 endlich zur Einschätzung gelangte, dass afghanische Frauen und Mädchen sowohl als Opfer diskriminierender Gesetzgebung als auch einer religiös motivierten Verfolgung betrachtet werden können und ihnen deshalb die Flüchtlingseigenschaft im Sinne der Genfer Konvention anzuerkennen ist. Eine entsprechende Analyse und Empfehlung kommunizierte die Europäische Asylagentur (EUAA) bereits Anfang 2023. Die meisten westeuropäischen Staaten passten ihre Asylpraxis daraufhin an. Die Schweiz stellt also mit ihrer Asylpraxis keinen Sonderfall dar. Ein Pull-Effekt, also eine besondere Anziehung afghanischer Asylgesuchstellerinnen durch die Schweiz, ist nicht zu befürchten. 

Der Flüchtlingsstatus bedeutet Sicherheit und Perspektiven

Seit der SEM-Praxisänderung vom Juli 2023 unterstützen die HEKS-Rechtsberatungsstellen Afghaninnen, die in der Schweiz bereits eine vorläufige Aufnahme haben, bei der Einreichung von neuen Asylgesuchen. Laura Rudolph, Juristin der HEKS-Rechtsberatungsstelle Aargau / Solothurn, erklärt: «Der Flüchtlingsstatus (Status B) unterscheidet sich stark von der vorläufigen Aufnahme: Der Status B bedeutet mehr Sicherheit und Perspektiven. Er bedeutet mehr Freiheit bei der Wahl, wo man wohnt. Viele Personen mit vorläufiger Aufnahme leben jahrelang in Kollektivunterkünften. Dort ist es eng und Privatsphäre gibt es kaum. Das sind sehr schwierige Lebensbedingungen, gerade für vulnerable Personen. Zudem erleichtert der Status B die Arbeitssuche und ermöglicht das Reisen ins Ausland. Dadurch können Familienangehörige und Freund:innen, die in anderen Ländern Schutz gefunden haben, endlich besucht werden und Kinder können unkompliziert auf die Schulreise in den Europapark (DE) mitfahren.»
Dennoch wird der Entscheid des SEM, afghanischen Frauen Asyl zu gewähren, nicht von allen Teilen der Schweizer Bevölkerung unterstützt. Die drei parlamentarischen Motionen 23.4020, 23.4241 und 23.4247 von SVP- und FDP-Vertreter:innen zweifeln die Legitimität des SEM-Entscheids an und fordern, dass die Praxisänderung in Bezug auf afghanische Frauen und Mädchen rückgängig gemacht wird.

 

Die Festlegung der Asylpraxis liegt in der Kompetenz des SEM

HEKS lehnt diese Forderungen dezidiert ab und weist darauf hin, dass die Schutzgewährung nach rechtlichen Kriterien durch die entsprechende Fachbehörde erfolgen muss, nicht nach politischen Kriterien. Die Anpassung der Asylpraxis in Bezug auf Afghaninnen ist keine Gesetzes- oder Verordnungsänderung. Es ist Aufgabe des SEM, die Situation in den Herkunftsländern von Asylsuchenden laufend zu analysieren und zu beurteilen, ob die gesetzlich festgelegten Voraussetzungen für die Asylgewährung erfüllt werden oder nicht. Zudem werden Asylanträge von afghanischen Frauen und Mädchen nach wie vor individuell geprüft. Dabei wird auch geprüft, ob in einem Drittstaat bereits eine sichere Aufenthaltsmöglichkeit besteht. Dies setzt voraus, dass der betreffende Drittstaat der Rückübernahme einer Person zustimmt und dass dort keine Gefahr einer Ausschaffung nach Afghanistan besteht (Non-Refoulement).

 

Das Recht auf Asyl gilt es zu schützen

Das Recht auf Asyl für verfolgte Menschen ist einer der zentralen Werte unserer Zivilisation. Das Asylrecht ist verankert in unseren christlichen Grundwerten, gewachsen aus den Fluchterfahrungen des 20. Jahrhunderts und festgehalten in der Genfer Flüchtlingskonvention sowie im Schweizer Asylgesetz. Dieses Recht auf Asyl gilt es zu schützen. HEKS empfiehlt daher dem Parlament, die drei Motionen abzulehnen.

Weitere Hintergrundinformationen finden Sie hier

 

Afghaninnen in der Schweiz kommen zu Wort 

Wer sind die afghanischen Frauen, die in die Schweiz geflüchtet sind? Wie beschreiben sie die Situation in Afghanistan? Und wie gelingt ihnen das Ankommen in der Schweiz? Vier Frauen berichten.  

«Die neue Praxis des SEM gegenüber afghanischen Frauen ist wichtig. In meinem Asylverfahren beim SEM musste ich immer wieder beweisen, warum ich in Gefahr war. Ich habe dem SEM 350 Seiten Dokumente vorgelegt. Trotzdem hat man mich gefragt, warum ich Schutz brauche. Angesichts der Situation, in der sich afghanische Frauen heute unter den Taliban befinden, ist es wichtig, dass sie ihre Bedrohung nicht mehr beweisen müssen. Dass man ihnen glaubt.»

Shabnam Simia war in Afghanistan Staatsanwältin und Expertin für terroristische Straftaten. 2021 flüchtete sie mit einem humanitären Visum in die Schweiz.

Shabnam Simia
Sereina Boner

«Für Frauen gibt es in Afghanistan kein Leben mehr. Seit bald fünf Jahren bin ich allein in der Schweiz. Ich vermisse meine Heimat, meine Sprache. Aber langsam ist auch die Schweiz mein Zuhause. Afghanistan ist auch ein Land der Berge. Ich wandere gerne. Das hilft. Ich verstehe jedoch nicht, warum Kriegsflüchtlinge in der Schweiz so lange warten müssen, bis sie eine dauerhafte Niederlassung bekommen. Für Personen aus der EU geht das viel schneller, obwohl sie auch in ihrer Heimat sicher wären.»

Madina Azizi spielte im afghanischen Fussballnationalteam. 2019 flüchtete sie in die Schweiz. Heute macht sie eine Lehre als Detailhandelsassistentin.

Madina Azizi
zvg

«Die vorläufige Aufnahme bedeutet für mich viel Unsicherheit. Ich habe ständig Angst, dass ich eines Tages nach Afghanistan zurückgeschickt werde. Den F-Ausweis muss ich jedes Jahr verlängern. Dieses Jahr hat der Prozess auf der Gemeinde etwas länger gedauert. Diese Wochen waren für mich sehr schlimm. 
Hier in der Schweiz habe ich Freiheit. Ich habe meine eigene Arbeit, mein Geld und ich kann selbst Entscheidungen treffen. In Afghanistan hätte ich keine Rechte. Ich könnte nichts entscheiden, nichts machen. Das ist kein Leben. Es ist langsames Sterben, jeden Tag.»

Zahra Alidoosty lebte in Iran, bevor sie 2019 in die Schweiz flüchtete. Sie hat hier Status F und absolviert eine Lehre als Bäckerin.

Zahra Alidoosty
zvg

«Die Taliban haben afghanische Frauen und Mädchen ihrer grundlegenden Menschenrechte beraubt. Mädchen dürfen die Schule nur noch bis zur sechsten Klasse besuchen. Der Besuch der Sekundarschule und der Universitäten ist für Mädchen und Frauen verboten. Auch der Zugang zu Erwerbstätigkeit, Bewegungsfreiheit sowie sozialer und politischer Teilhabe wird ihnen verwehrt. Friedliche Demonstrationen von Frauen werden unterdrückt. Aktivistinnen werden verhaftet, gefoltert, vergewaltigt, inhaftiert und sogar getötet.»

Najibah Zartosht, ist Ökonomin, Autorin und Chefredaktorin des Online Magazins «Afghanistan Women's Voice». 2021 ist sie aus Afghanistan geflüchtet.

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