Und wenn wir alle Geflüchteten solidarisch aufnehmen würden?
Seit nunmehr 13 Jahren vertrete ich Menschen, die aus ihrem Herkunftsland geflohen sind, weil sie dort in Gefahr waren. All diese Solidaritätsbekundungen und die politische Mobilisierung sollten mich also einfach nur freuen. Aber auch ich habe die eingangs erwähnte Geschichte mit dem Schlüssel im Kopf.
Im Kanton Waadt gab es jüngst einen Aufschrei, als die Behörden davon sprachen, die Kaserne von Les Rochats wieder zu öffnen – eine Kaserne, die hoch oben auf einem Hügel thront, mit einem Restaurant und Kühen als einzige Nachbarn. Die Kaserne liegt 5 Kilometer von Provence entfernt, einem kleinen Dorf im Kanton Neuenburg. Es verkehren keine Busse, dorthin. Und deshalb geht das nicht! Denn in der Tat: Wie könnten sich vor dem Krieg aus der Ukraine geflüchtete Menschen bei uns integrieren, Zugang zu Ärztinnen oder Psychiatern erhalten, wenn sie an einem solch abgelegenen Ort untergebracht wären? Nur: Vor einigen Jahren haben wir genau diese Dinge gesagt, als das Staatssekretariat für Migration (SEM) diese Kaserne für die Unterbringung von Asylsuchenden zur Verfügung gestellt hat. Aber im Fall der Afrikaner:innen, Syrer:innen oder Afghan:innen störte es praktisch niemanden, diese auf dem Berg, fernab von allem unterzubringen.
Gute Gründe, um vor einen militärischen Konflikt zu fliehen, gibt es natürlich nicht erst seit dem 24. Februar 2022.
Aber bis heute erhalten Menschen, die vor solchen Konflikten ohne spezielle Rolle darin fliehen müssen, in der Schweiz nur eine vorläufige Aufnahme. Und diese erhalten sie auch nicht innerhalb von drei Tagen, sondern erst nach einem langen Prozess, in dem sie ihre oft schreckliche Geschichte von einer Reise voller Gewalt und Übergriffen, vom Verlust von geliebten Menschen und einem Stück von sich selbst erzählen müssen, weil es kaum eine Möglichkeit gibt, legal in die Schweiz zu gelangen. Am Ende dieses langwierigen Weges steht ein Ausweis F, der es einem erst nach drei Jahren erlaubt, seine Angehörigen nachkommen zu lassen, sofern man denn über ein ausreichendes Einkommen verfügt, um für sie zu sorgen. Seien wir uns bewusst, wie schwierig es ist, eine Sprache zu lernen und sich in einen ausländischen Arbeitsmarkt zu integrieren, wenn man schlecht schläft, wenig isst, weil man von Ängsten darüber geplagt wird, was mit den Angehörigen passieren könnte, die im Herkunftsland zurückgeblieben sind.
Für mich als Rechtsvertreterin von Asylsuchenden ist diese Geschichte mit S und F oder dem Liftschlüssel tatsächlich schwierig zu akzeptieren. Die unterschiedliche Behandlung ist brutal für diejenigen, die vor anderen Konflikten als jenem in der Ukraine geflohen sind; aber auch für diejenigen, zu denen auch ich gehöre, die betroffen sind durch die Tatsache, dass jemand gezwungen wird seine Heimat wegen Bomben verlassen zu müssen, und die nicht unterscheiden, ob es sich beim Konflikt um einen Krieg mit einem externen Aggressor oder um einem Bürgerkrieg handelt, ob es sich bei den Betroffenen um Menschen aus unserem oder aus einem anderen Kulturkreis handelt.
Diese unterschiedliche Behandlung führt unweigerlich zu Spannungen unter den Geflüchteten und zu Unbehagen unter den Rechtsvertreter:innen dieser Menschen.
Die Ukrainerinnen und Ukrainer verdienen selbstverständlich unsere Solidarität und den politischen Willen, sie bei uns aufzunehmen.
Und niemand wünscht sich, dass Geflüchtete aus der Ukraine bei uns mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben wie Kriegsvertriebene aus anderen Ländern. Es geht vielmehr darum, sich daran zu erinnern, dass wir durchaus in der Lage sind, viele Menschen in sehr kurzer Zeit bei uns aufzunehmen. Die grosse Herausforderung besteht demnach darin, grundsätzlich die Bereitschaft zu stärken, Menschen, die ein Leben in Frieden suchen, zu schützen und bei uns aufzunehmen. Und damit dem solidarischen Impuls zu folgen, den der ukrainisch-russische Konflikt bei vielen von uns geweckt hat.