Wie lange hält unsere Solidarität an?
Mit umfassender Integration …
Ich trinke meinen Morgenkaffee und stöbere durch die Nachrichten. «Ukrainische Spezialisten können den Schweizer Fachkräftemangel lindern» lese ich auf einem online Portal. Neben Unterstützungsleistung für die Menschen aus der Ukraine wird in den letzten Tagen auch darüber diskutiert, wie ausgebildete Ukrainer:innen in den Schweizer Arbeitsmarkt integriert werden könnten, um die bestehenden Lücken zu füllen. Obwohl Ukrainer:innen kein Anspruch auf Integrationsmassnahmen haben, weil der Status S als «rückkehrorientierter Status» gilt, wurden für ihren Spracherwerb finanzielle Mittel gesprochen. Das macht Sinn. Schliesslich ist die Sprache der Schlüssel zu einer erfolgreichen Arbeitsintegration. Und diese ist wichtig. Eine Arbeit zu haben bedeutet nicht nur Existenzsicherung, sondern auch, das eigene Leben selbstbestimmt zu gestalten und am gesellschaftlichen Leben zu partizipieren. Arbeitsintegration allein reicht aber nicht aus. Denn nicht alle, die hier Zuflucht suchen, werden einer Erwerbsarbeit nachgehen können – sei es aufgrund von Alter oder Gesundheit. Um auch diese Menschen auffangen zu können, braucht es eine Integration, die weiter gefasst ist als nur wirtschaftliche Integration. Es braucht eine umfassende Integration, die auch Freizeitgestaltung und Beschäftigungsprogramme, Bildung und Kinderbetreuung sowie gesundheitliche Begleitung und Unterstützung beinhaltet.
… hin zu einer offenen und inklusiven Gesellschaft
Für viele Menschen aus der Ukraine ist es ein Anliegen, so schnell wie möglich nach Hause zurückkehren zu können. Fakt ist aber leider, dass dieser Krieg noch länger dauern könnte. Manche Menschen werden deshalb möglicherweise noch lange hierbleiben. Ein Teil von ihnen vielleicht sogar für immer. Der gesellschaftliche Zusammenhalt wird neu ausgehandelt und erarbeitet werden müssen – wie schon oftmals in der Geschichte. Unter gesellschaftlichem Zusammenhalt verstehe ich nicht eine grenzenlose Harmonie. Zu denken, dass so etwas existiert, wäre naiv. Vielmehr verstehe ich darunter eine auf Inklusion basierende Gesellschaft, in der dieser Zusammenhalt trotz unterschiedlichen Vorstellungen, Werten und Interessen bestehen bleibt.
Um diesen gesellschaftlichen Aushandlungsprozess auf Augenhöhe vorantreiben zu können, sind die Möglichkeit einer gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft sowie Offenheit bei allen Beteiligten unabdingbar. Diese Offenheit braucht Mut, sich auf einen gemeinsamen Weg zu begeben sowie Bereitschaft, Platz für neue Mitglieder in unserer Gesellschaft zu schaffen. Und gerade das kann bei einem Teil der Bevölkerung - zumindest kurzfristig und auch verständlicherweise - das Gefühl von Verlust auslösen. In der Tat kann es aber ein Gewinn für uns alle sein, denn dadurch können wir uns als Individuen und als Gemeinschaft weiterentwickeln und gemeinsam wachsen. Solidarität gibt einen wichtigen Impuls hin zu einer inklusiven Gesellschaft. Aber Solidarität in dem Ausmass, wie wir sie jetzt erleben, hält nicht für immer. Deshalb sollten wir diesen Moment als Chance nutzen, um die Weichen für eine Gesellschaft zu stellen, in der wir morgen leben möchten. Einer Gesellschaft, in der Offenheit und Solidarität in Krisen wie dieser nicht nur eine Selbstverständlichkeit sind, sondern für alle Geflüchtete gleichermassen gelten.