Der Ukrainekrieg und die gewaltfreie Friedensförderung
HEKS/András D. Hajdú
Blogbeitrag von Rahel Hürzeler vom 05.05.2022

Der Ukrainekrieg und die gewaltfreie Friedensförderung

Der Ukrainekrieg und die gewaltfreie Friedensförderung

HEKS leistet weltweit Friedensarbeit – mit einem menschenrechtsbasierten Ansatz und gewaltfreien Methoden. Als Fachperson für Konflikttransformation ist für mich klar, dass wir an diesen Grundsätzen nicht rütteln, auch nicht in Kriegssituationen und schwierigen Kontexten wie Syrien, Südsudan oder DR Kongo. Doch im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg, wird der Nutzen der gewaltlosen Friedensförderung in der Öffentlichkeit in Frage gestellt: Wer angesichts der schrecklichen Bilder in der Ukraine immer noch eine pazifistische Position vertritt, dem wird vorgeworfen, «naiv» zu sein oder sich nicht für die Angegriffenen zu interessieren. Ist gewaltfreie Friedensförderung tatsächlich nur eine bequeme, veraltete Utopie?

Rahel Huerzeler
Rahel Hürzeler

Rahel Hürzeler ist Fachperson für Menschenrechte, Konflikttransformation und Gleichberechtigung sowie Co-Abteilungsleiterin Entwicklungspolitik & Themenberatung bei HEKS. 

Es fällt mir schwer, angesichts des unermesslichen Leides der Menschen in der Ukraine überhaupt Worte zu finden. Einfache Antworten gibt es in dieser schwierigen Situation keine. Wie viele andere macht mich dieser grausame Angriff unglaublich traurig, wütend und ohnmächtig. In der Presse werden Waffenlieferungen, Aufrüstung und Wirtschaftssanktionen diskutiert – quasi als logische Antwort an einen Feind, der nur die Sprache der Gewalt zu verstehen scheint. Und ja, nur Gebete und bunte Friedensfahnen werden Putin nicht stoppen und den Krieg in der Ukraine nicht beenden. 

 

Widerstand ohne Waffen

Doch die gesamte Friedensforschung zeigt, dass Aufrüstung und Drohungen die Spannungen weiter verschärfen und historisch kaum zum Frieden beigetragen haben. Deshalb wehre ich mich dagegen, dass wir nun dem Bewaffnungsreflex verfallen. Der Zweck heiligt dieses Mittel nicht. Das oberste Ziel muss eine Lösung am Verhandlungstisch statt auf dem Schlachtfeld bleiben. Gewaltfrei agieren bedeutet aber nicht, Nichts zu tun und auf Putins Einsicht zu hoffen. Weltweit gab es Demonstrationen, scharfe Sanktionen und auch in der Ukraine gibt es Aktionen des zivilen Widerstands. Mit Videobotschaften, Menschenketten und sogar mit Strassenschildern haben die Menschen klar gezeigt, dass die Invasoren nicht willkommen sind. Ich glaube nicht, dass dieser zivile Widerstand allein die Besatzung beenden wird. Aber er hat das ukrainische Volk gestärkt und Putins Narrativ vom Befreiungskampf widerlegt. 

Frieden ist mehr als die Abwesenheit von roher, physischer Gewalt.

Friedensförderung stärken oder herabsetzen?  

Oft wird Friedensförderung erst dann wahrgenommen und zugleich belächelt, wenn bereits geschossen wird. Wir müssen aber langfristig und kohärent pazifistisch handeln. Frieden ist mehr als die Abwesenheit von roher, physischer Gewalt. Die Wurzeln aller Gewalt sind immer Ungerechtigkeiten und Machtmissbrauch. Um Frieden zu schaffen, braucht es gerechte Strukturen und humane Werte. Die Macht muss reguliert und Gewalt eingeschränkt werden. Dabei geht es nicht nur um Gewalt zwischen Staaten. Krieg ist nur ein Beispiel für Machtmissbrauch. Um Frieden zu erreichen, müssen auch Machtgefälle andernorts geregelt werden: etwa zwischen Nord und Süd, Arm und Reich oder zwischen den Geschlechtern. Es braucht einen Dialog zwischen den verschiedenen Gruppen. Konstruktive Kommunikation und Menschlichkeit dürfen nicht verloren gehen. Ja, auch zwischen den Russ:innen und Ukrainer:innen, zwischen Putin und westlichen Regierungen. Statt Aufrüsten, Dämonisieren und Polarisieren sollte man deeskalieren, Hintertüren anbieten und alle Seiten deutlich auffordern, ihrer vertraglichen und menschlichen Pflicht zur Einhaltung des Völkerrechts nachzukommen. Dialog braucht es auf verschiedenen Ebenen; in der UNO und der OSZE, zwischen politischen Akteur:innen, an der Front zwischen den Konfliktparteien, aber auch in der Zivilgesellschaft, von Mensch zu Mensch. 

 

Kein Frieden ohne eine lebendige und kritische Zivilgesellschaft 

Die Rolle der Zivilgesellschaft scheint mir besonders wichtig. In der Ukraine gibt es seit der «orangen» Revolution 2004 und den Maidan-Protesten 2014 eine aktive Zivilgesellschaft. Diese ist gut vernetzt und übernimmt jetzt wichtige Aufgaben. So gelingt es vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen trotz der katastrophalen Lage humanitäre Hilfe zu organisieren, Flüchtende zu unterstützen, psychosoziale Beratung oder Hilfe bei der Suche nach Vermissten anzubieten. Auch die Arbeit, die wir von HEKS im Moment vor Ort und in den Nachbarländern leisten, wäre ohne die langjährige Zusammenarbeit mit unseren zivilen Partnerorganisationen nicht denkbar. Doch nicht nur die ukrainische, auch die russische Zivilgesellschaft ist wichtig. Die kritische russische Zivilgesellschaft wird aber seit vielen Jahren systematisch unterdrückt und verfolgt. Putin hat Gesetze erlassen, die die Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit massiv einschränken. Deshalb ist die russische Friedensbewegung heute so klein. Trotzdem sind auch in Russland seit Kriegsbeginn Tausende für den Frieden auf die Strasse gegangen, viele davon sind verhaftet worden. Diese Aktivist:innen brauchen unsere Unterstützung und Solidarität. Und sie brauchen eine langfristige Friedensarbeit, welche demokratische Strukturen und Menschenrechte auch in Russland fördert. 

Als weltgrösster Handelsplatz für russisches Öl und Gas hätte die Schweiz hier einen sehr wirksamen Hebel in der Hand.

Die wichtige Rolle der Schweiz

Die Menschenrechte dürfen weder in Kriegs- noch in Friedenszeiten den wirtschaftlichen Interessen untergeordnet werden. Die Schweiz bezieht nicht nur Gas und Öl aus Russland, es werden auch 80 Prozent des gesamten russischen Rohstoffhandels über die Schweiz abgewickelt. Die Rohstoffgeschäfte der Schweiz sind weitgehend unreguliert, eine Aufsichtsbehörde wie im Finanzsektor gibt es nicht. Als weltgrösster Handelsplatz für russisches Öl und Gas hätte die Schweiz hier einen sehr wirksamen Hebel in der Hand. Da scheint es mir realitätsfremd, wie Bundesrat Cassis Anfang April in der «Tagesschau» meinte, dass «eigenständige Sanktionen aus einem kleinen Land wie der Schweiz, höchstens symbolischen Charakter haben, weil sie keine Wirkung entfachen». Allgemein wünschte ich mir eine kritischere Reflexion der eigenen Position hinsichtlich der Zusammenarbeit der Schweiz mit menschenrechtsverachtenden Regierungen und Unternehmen, aber auch hinsichtlich der westlichen Russland- und Natopolitik und der Kriegsrhetorik und Polarisierung in unseren Medien. 

 

Statt Aufrüstung eine Veränderung hin zu mehr Gerechtigkeit 

Um schliesslich auf meine Eingangsfrage zurückzukommen: Weitaus naiver, als an gewaltfreier Friedensförderung festzuhalten, scheint es mir, wenn wir einfach so weitermachen wie bisher. Die Schweiz und andere Demokratien dürfen nicht länger unkontrollierte Geschäfte mit menschenverachtenden Unternehmen und Regimes treiben (das betrifft nicht nur Russland, sondern auch China, Saudi-Arabien, Iran und viele andere). Wir dürfen nicht wegschauen, statt reagieren, das Recht des Stärkeren akzeptieren und aus Angst vor künftigen Kriegen einfach nur aufrüsten. Waffenlieferungen oder Aufstockungen des Militäretats können Investitionen in der Friedensförderung nicht ersetzen. Unbedingt und stetig gestärkt werden müssen eine laute zivilgesellschaftliche Stimme gegen den Krieg, offizielle Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen und konkrete Veränderungen hin zu gerechten, ökologischen und demokratischen Gesellschaften.

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