Der Ukrainekrieg und die gewaltfreie Friedensförderung
Widerstand ohne Waffen
Frieden ist mehr als die Abwesenheit von roher, physischer Gewalt.
Friedensförderung stärken oder herabsetzen?
Oft wird Friedensförderung erst dann wahrgenommen und zugleich belächelt, wenn bereits geschossen wird. Wir müssen aber langfristig und kohärent pazifistisch handeln. Frieden ist mehr als die Abwesenheit von roher, physischer Gewalt. Die Wurzeln aller Gewalt sind immer Ungerechtigkeiten und Machtmissbrauch. Um Frieden zu schaffen, braucht es gerechte Strukturen und humane Werte. Die Macht muss reguliert und Gewalt eingeschränkt werden. Dabei geht es nicht nur um Gewalt zwischen Staaten. Krieg ist nur ein Beispiel für Machtmissbrauch. Um Frieden zu erreichen, müssen auch Machtgefälle andernorts geregelt werden: etwa zwischen Nord und Süd, Arm und Reich oder zwischen den Geschlechtern. Es braucht einen Dialog zwischen den verschiedenen Gruppen. Konstruktive Kommunikation und Menschlichkeit dürfen nicht verloren gehen. Ja, auch zwischen den Russ:innen und Ukrainer:innen, zwischen Putin und westlichen Regierungen. Statt Aufrüsten, Dämonisieren und Polarisieren sollte man deeskalieren, Hintertüren anbieten und alle Seiten deutlich auffordern, ihrer vertraglichen und menschlichen Pflicht zur Einhaltung des Völkerrechts nachzukommen. Dialog braucht es auf verschiedenen Ebenen; in der UNO und der OSZE, zwischen politischen Akteur:innen, an der Front zwischen den Konfliktparteien, aber auch in der Zivilgesellschaft, von Mensch zu Mensch.
Kein Frieden ohne eine lebendige und kritische Zivilgesellschaft
Die Rolle der Zivilgesellschaft scheint mir besonders wichtig. In der Ukraine gibt es seit der «orangen» Revolution 2004 und den Maidan-Protesten 2014 eine aktive Zivilgesellschaft. Diese ist gut vernetzt und übernimmt jetzt wichtige Aufgaben. So gelingt es vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen trotz der katastrophalen Lage humanitäre Hilfe zu organisieren, Flüchtende zu unterstützen, psychosoziale Beratung oder Hilfe bei der Suche nach Vermissten anzubieten. Auch die Arbeit, die wir von HEKS im Moment vor Ort und in den Nachbarländern leisten, wäre ohne die langjährige Zusammenarbeit mit unseren zivilen Partnerorganisationen nicht denkbar. Doch nicht nur die ukrainische, auch die russische Zivilgesellschaft ist wichtig. Die kritische russische Zivilgesellschaft wird aber seit vielen Jahren systematisch unterdrückt und verfolgt. Putin hat Gesetze erlassen, die die Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit massiv einschränken. Deshalb ist die russische Friedensbewegung heute so klein. Trotzdem sind auch in Russland seit Kriegsbeginn Tausende für den Frieden auf die Strasse gegangen, viele davon sind verhaftet worden. Diese Aktivist:innen brauchen unsere Unterstützung und Solidarität. Und sie brauchen eine langfristige Friedensarbeit, welche demokratische Strukturen und Menschenrechte auch in Russland fördert.
Als weltgrösster Handelsplatz für russisches Öl und Gas hätte die Schweiz hier einen sehr wirksamen Hebel in der Hand.
Die wichtige Rolle der Schweiz
Die Menschenrechte dürfen weder in Kriegs- noch in Friedenszeiten den wirtschaftlichen Interessen untergeordnet werden. Die Schweiz bezieht nicht nur Gas und Öl aus Russland, es werden auch 80 Prozent des gesamten russischen Rohstoffhandels über die Schweiz abgewickelt. Die Rohstoffgeschäfte der Schweiz sind weitgehend unreguliert, eine Aufsichtsbehörde wie im Finanzsektor gibt es nicht. Als weltgrösster Handelsplatz für russisches Öl und Gas hätte die Schweiz hier einen sehr wirksamen Hebel in der Hand. Da scheint es mir realitätsfremd, wie Bundesrat Cassis Anfang April in der «Tagesschau» meinte, dass «eigenständige Sanktionen aus einem kleinen Land wie der Schweiz, höchstens symbolischen Charakter haben, weil sie keine Wirkung entfachen». Allgemein wünschte ich mir eine kritischere Reflexion der eigenen Position hinsichtlich der Zusammenarbeit der Schweiz mit menschenrechtsverachtenden Regierungen und Unternehmen, aber auch hinsichtlich der westlichen Russland- und Natopolitik und der Kriegsrhetorik und Polarisierung in unseren Medien.
Statt Aufrüstung eine Veränderung hin zu mehr Gerechtigkeit
Um schliesslich auf meine Eingangsfrage zurückzukommen: Weitaus naiver, als an gewaltfreier Friedensförderung festzuhalten, scheint es mir, wenn wir einfach so weitermachen wie bisher. Die Schweiz und andere Demokratien dürfen nicht länger unkontrollierte Geschäfte mit menschenverachtenden Unternehmen und Regimes treiben (das betrifft nicht nur Russland, sondern auch China, Saudi-Arabien, Iran und viele andere). Wir dürfen nicht wegschauen, statt reagieren, das Recht des Stärkeren akzeptieren und aus Angst vor künftigen Kriegen einfach nur aufrüsten. Waffenlieferungen oder Aufstockungen des Militäretats können Investitionen in der Friedensförderung nicht ersetzen. Unbedingt und stetig gestärkt werden müssen eine laute zivilgesellschaftliche Stimme gegen den Krieg, offizielle Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen und konkrete Veränderungen hin zu gerechten, ökologischen und demokratischen Gesellschaften.