Niemanden zurücklassen
HEKS
Blogbeitrag von Nina Vladović vom 20.07.2022

Wer wird in unserer Gesellschaft zurückgelassen?

Wer wird in unserer Gesellschaft zurückgelassen?

Der Leitsatz «Niemanden zurücklassen» bildet das Herzstück der Agenda 2030 und ist die Voraussetzung für eine inklusive und chancengerechte Gesellschaft. Die Zeit für die Umsetzung der 17 Nachhaltigkeitsziele ist aber knapp. Diese Ziele können nur dann erreicht werden, wenn alle Menschen gleichwertig an der Gesellschaft teilhaben können und Zugang zu Rechten und Ressourcen haben. Deshalb ist es wichtig, jetzt eine Bilanz zu ziehen und die Frage zu stellen: Wer in unserer Gesellschaft wird zurückgelassen?

Das Ziel 10 der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung fordert eine Gesellschaft, an der alle sozial, wirtschaftlich und politisch teilhaben können. Trotz dieses wichtigen und ambitionierten Vorhabens müssen wir feststellen: Die Ungleichheit nimmt zu – weltweit und in der Schweiz. Pandemie, Kriege und die Klimakrise haben diese Entwicklung zusätzlich verschärft. Im internationalen Vergleich fallen die Folgen dieser Krisen in der Schweiz zwar moderater aus, es sind aber die bereits sozial benachteiligten Menschen, die diese besonders zu spüren bekommen.

 
Nina Vladovic
Nina Vladović

Nina Vladović arbeitet bei HEKS als Verantwortliche für die Fachstelle Inklusion und Gesellschaftspolitik

Wir leben in einem der reichsten Länder der Welt. Trotzdem sind auch in der Schweiz immer mehr Menschen von Armut betroffen.

Wir leben in einem der reichsten Länder der Welt. Trotzdem sind auch in der Schweiz immer mehr Menschen von Armut betroffen – derzeit fast dreiviertel Millionen. Die Ursachen dafür sind in ungerechten strukturellen Rahmenbedingungen zu verorten und müssen dort auch angegangen werden. Stattdessen werden sie häufig mit falschen Mitteln bekämpft. Seit Jahren beobachten wir einen zunehmend restriktiven Diskurs in Bezug auf die Sozialhilfe, der zu einem Leistungsabbau führte. Zielscheibe von diesen Kürzungen sind häufig Menschen ohne Schweizer Pass. Beziehen sie Sozialhilfe, stellt dies ein Risiko für ihren Aufenthaltsstatus dar. Viele verzichten aus Angst auf die finanzielle Unterstützung, obwohl sie in einer Notlage sind und ein Recht darauf hätten. Diese Politik schadet den Armutsbetroffenen, anstatt die Armut zu bekämpfen. Solche politischen Tendenzen sind nicht nur ethisch fragwürdig, sondern machen auch wirtschaftlich wenig Sinn.

Bestimmte Personen sind in der Schweiz sogar von der regulären Sozialhilfe ausgeschlossen: Menschen mit vorläufiger Aufnahmebewilligung und ukrainische Geflüchtete, die wegen des Krieges in ihrem Herkunftsland Sicherheit in der Schweiz suchen mussten. Diese Menschen erhalten Unterstützungsleistungen, die um einiges tiefer sein können als die reguläre Sozialhilfe. Im Kanton Zürich zum Bespiel sind diese je nach Gemeinde 30 bis 70 Prozent tiefer als der von der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) festgelegte Grundbedarf für den Lebensunterhalt. Das reicht nicht zum Leben. Häufig führt diese schwierige finanzielle Situation zu sozialer Ausgrenzung und Isolation. Sie hindert Menschen daran, an der Gesellschaft vollwertig teilzuhaben und ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten.

Besonders prekär ist die Lage für die sogenannten Sans-Papiers. Diese Menschen leben in der Schweiz irregulär, und arbeiten zu tiefsten Löhnen und unter schwierigsten Bedingungen. Es sind diese Personen, die unsere Wohnungen putzen, unsere Häuser bauen und unsere Kinder hüten. Also Menschen, die auch dafür sorgen, dass unsere Gesellschaft funktionieren kann, die jedoch in keinen offiziellen Statistiken existieren. Sie sind auf sich allein gestellt. Besonders deutlich war das während Pandemie, als das Einkommen vieler über Nacht einbrach. Da Sans-Papiers keinen gesicherten Zugang zu staatlicher Hilfe hatten, wussten viele nicht, wie sie das Notwendigste wie Miete oder Essen zahlen würden. Auch der Zugang zur Justiz wird den Sans-Papiers erschwert, da sie vor Gericht riskieren denunziert und ausgewiesen zu werden. 

Die Menschen, über die ich hier schreibe, haben nur wenig Handlungsoptionen. Häufig können sie sich nicht wehren, werden nicht gehört und sind unsichtbar. Aufgrund ihres Aufenthaltsstatus werden sie an den Rand der Gesellschaft gedrängt – wirtschaftlich, politisch, sozial. 
 

Petition für eine gerechte Sozialhilfe
Medienmitteilung vom 28. Juni 2022
Über 8500 Unterschriften für gerechte Sozialhilfe

Mit der Übergabe der HEKS-Petition «Für eine gerechte Sozialhilfe» fordern 8551 Unterzeichner:innen vom Parlament eine Sozialhilfe, die alle Menschen in der Schweiz auffängt. Übergeben wurde die Petition heute Vormittag von zwei Frauen, die selbst betroffen sind.

Solange Menschen unter uns leben, die von den Grundrechten ausgeschlossen sind, werden wir die Ziele der Agenda 2030 nicht erreichen.

Solange Menschen unter uns leben, die von den Grundrechten ausgeschlossen sind, werden wir die Ziele der Agenda 2030 nicht erreichen. Deshalb stelle ich nochmal die Frage: Wer wird in unserer Gesellschaft zurückgelassen? Die Antwort auf diese Frage ist fundamental für den Aufbau einer friedlicheren, gerechteren und inklusiveren Gesellschaft. Neben den Menschen mit unsicherem Aufenthaltsstatus betrifft es auch Alleinerziehende, Ältere, Langzeiterwerbslose, Erkrankte, von Rassismus Betroffene, mehrfach Diskriminierte und noch viele mehr. 

Was Nelson Mandela sagte: «Es kann keine schärfere Offenbarung der Seele einer Gesellschaft geben als die Art, wie sie ihre Kinder behandelt», gilt auch für die Vulnerabelsten unserer Gesellschaft. Niemanden zurückzulassen ist nicht nur wichtig für diejenige, die zurückgelassen werden. Es ist auch wichtig für uns alle. Es ist wichtig für die Gesellschaft als gesamtes.

Plattform Agenda 2030
Bericht
«Wie nachhaltig ist die Schweiz?»

Wie setzt die Schweiz die Agenda 2030 um? Der Bericht aus dem Jahr 2018 zieht Bilanz und zeigt in verschiedenen Bereichen den Handlungsbedarf auf.

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