Agrarökologie ist auch immer gesellschaftspolitische Bewegung
HEKS
Blogbeitrag von Johanna Herrigel vom 10.10.2022

Agrarökologie ist auch immer gesellschaftspolitische Bewegung

Agrarökologie ist auch immer gesellschaftspolitische Bewegung

Der Hitzesommer hat gezeigt, dass wir die negativen Auswirkungen des Klimawandels auf die Landwirtschaft nicht mehr wegdiskutieren können. Ein Umdenken ist dringend nötig. Agrarökologie ist eine wachsende gesellschaftspolitische Bewegung, die zeigt: Landwirtschaft und Lebensmittelversorgung können mit ökologischen und sozialen Zielen vereinbart werden und zur Lösung der Klimakrise beitragen.

Nach dem Rekord-Dürresommer in diesem Jahr ist klar: Der Klimawandel ist mit voller Wucht da und für uns alle spürbar. Manche von uns mögen diesen Hitzesommer am und im Wasser sicher genossen haben. Doch die Hitze und Trockenheit setzt der Natur und den Menschen, die in und mit der Natur arbeiten, allen voran Bäuer:innen, zunehmend zu. Die Medien haben über Hitze, Dürre, Brände, Wassermangel und massive Ernteertragsausfälle in der Schweiz und vielen anderen Ländern berichtet.

Und doch scheint das Problem irgendwie abstrakt, so als tangiere es uns nicht wirklich direkt. Vom Schwitzen abgesehen spüren wir es kaum. Unsere Lebensmittelpreise in der Schweiz steigen vergleichsweise langsam (was auch, aber nicht nur mit dem Klimawandel zu tun hat), Wassermangel wird hauptsächlich in Form verdorrter Wiesen in öffentlichen Parks oder tiefer Wasserpegel in Fluss- und Seebädern direkt erlebbar. Das alltägliche Leiden der Bäuer:innen ist insbesondere für die Menschen in den Städten weit weg. Nicht für mich, denn ich bin Mitglied der Gemüsegenossenschaft «meh als gmües», einem 2016 gegründeten Projekt der solidarischen Landwirtschaft in Zürich-Nord. 

Johanna Herrigel
Johanna Herrigel

Johanna Herrigel arbeitet bei HEKS als Themenverantwortliche für das Recht auf Nahrung.

 

Mitwirken und Mitbestimmen im Betrieb schaffen Wertschätzung, Verständnis und Identifikation.

Der Grundsatz der solidarischen Landwirtschaft besteht darin, die Produktionsmittel des Betriebs durch die Mitglieder zu finanzieren. Bei «meh als gmües» arbeite ich im Jahr 20 Stunden im Betrieb mit, sei dies bei der Aussaat, beim Jäten, bei der Ernte oder wöchentlichen Lieferung des Gemüses ins Depot. Durch die Mitarbeit und Mitbestimmung bin ich nicht nur Konsumentin, sondern auch Produzentin, also eine sogenannte «Prosumentin». Resultat: Ich identifiziere mich mit Garten, Acker und Betrieb. Wie es dem Land, den Pflanzen, Tieren und Menschen dort geht, das bestimme ich mit und das beschäftigt mich im Alltag. Es geht mich eben etwas an, wenn die angestellten Gärtner:innen wegen Extremtemperaturen bei der Arbeit leiden, wenn der Boden wegen der Dürre pickelhart steinhart wird und das Wasser von plötzlichen Starkniederschlägen nicht aufnehmen kann. So mussten wir zum Beispiel im Sommer 2021 wegen Überschwemmungen und anhaltend tiefen Temperaturen um unsere Herbsternte bangen. Es beschäftigt und fasziniert mich, wie unser Gemüse den Wetterextremen dank agrarökologischer Anbaumethoden besser Stand hält. Ich verstehe, wieso mein Gemüse so aussieht wie es im Depot ankommt, in grossen Mengen und prächtig gediehen oder nach zu langem Regen, Schädlings- und Krankheitsbefall spärlich und vom Hagel durchlöchert. Mitwirken und Mitbestimmen im Betrieb schaffen Wertschätzung, Verständnis und Identifikation.

Bei «meh als gmües» ist der Name Programm: Ziel ist mehr als die Gemüseproduktion.

Was das genau beinhaltet, haben wir Anfang 2020 in einem kollektiven Prozess über sechs Monate erarbeitet. Bis 2025 wird die Genossenschaft fossilfrei, wächst nur auf eine Grösse, die für uns nachhaltig und sinnvoll ist (aktuell haben wir 320 Ernteanteile, vier Gärtner:innen und über sechs Hektare bewirtschaftetes Land) und wird ein diversifizierter agrarökologischer Betrieb. Neben dem einjährigen Ackergemüse wird häufiger mehrjähriges Gemüse angebaut, mit möglichst wenig intensiver  Bodenbearbeitung, dauerbegrünten Fahrstreifen sowie zunehmend selbst produziertem Mulch und Dünger. Zusätzlich zu den Gemüsepflanzen wachsen auf dem Acker auch eine Vielfalt an Stauden, Hecken und Bäumen (Stichwort Agroforst). Sie geben uns Obst und Nüsse, bieten vielen nützlichen und seltenen Tieren Nahrung und Unterschlupf, liefern Mulch für die Gemüsepflanzen und fördern den Humusaufbau und somit Wasserspeicherkapazität der Böden. Im Verbund der Ackerparzellen entstehen so arten- und strukturreiche Landschaften, die auch als Erholungsräume von allen – nicht nur den Mitgliedern – geschätzt werden. Agrarökologie beinhaltet über eine nachhaltige Form der Landwirtschaft hinaus also auch den Schutz von Ökosystemen und das Schaffen regenerativer Landschaften überall, im ländlichen wie im städtischen Raum.  
Saatgut-Ausstellung während dem ganzen Monat im Grüenhölzli
HEKS-Veranstaltungen
«Tage der Agrarökologie»

Vom 1. bis 31. Oktober finden erstmalig schweizweit die «Tage der Agrarökologie» statt. HEKS organisiert in diesem Rahmen zwei Veranstaltungen und lädt Sie herzlich dazu ein. Finden Sie hier mehr Informationen. 

Agrarökologie ist für uns – wie für viele – klar politisch, denn es geht um nichts weniger als die Umgestaltung unserer Gesellschaft und Wirtschaft. 

Doch damit nicht genug. Als Genossenschaft setzten wir uns von «meh als gmües» zivilgesellschaftlich und politisch dafür ein, dass die Beziehungen zwischen allen entlang der Wertschöpfungskette von Lebensmitteln fair und solidarisch werden: Von den in der Landwirtschaft angestellten Personen, über die Verarbeitung, Logistik und den Handel, bis zu den Läden, Restaurants, Kantinen und schlussendlich den Haushalten und Endkonsument:innen. Wir sind Teil einer sozialen Bewegung, in unserer Region (Beispiel: Ernährungsforum Zürich), der Deutschschweiz (Beispiel: Solawi-Netzwerk Deutschschweiz), der Schweiz (Beispiel: Agroecology works!), und global (Beispiel: URGENCI und La Via Campesina). Agrarökologie ist für uns – wie für viele – klar politisch, denn es geht um nichts weniger als die Umgestaltung unsere Gesellschaft und Wirtschaft, damit diese endlich fair, solidarisch und enkeltauglich werden und dass gesunde Lebensmittel produziert werden.

Meine Erfahrungen bei «meh als gmües» zeigen: Agrarökologie beinhaltet neben der ökologischen Produktion von gesunden und vielfältigen Lebensmitteln auch faire und würdige Arbeitsbedingungen und Handelsbeziehungen. Schlussendlich geht es bei Agrarökologie um Ernährungssouveränität, also darum ein selbstbestimmtes Ernährungssystem zu schaffen, in dem in erster Linie Menschen – nicht Konzerne oder Handelsabkommen – entscheiden können, was sie essen und wie und wo ihre Nahrungsmittel produziert werden. In diesem Sinne ist Agrarökologie immer auch eine gesellschaftspolitische Bewegung. Dank der Agrarökologie kann das Landwirtschafts- und Ernährungssystem, das derzeit für bis zu 40 Prozent der klimaschädlichen Treibhausgase verantwortlich ist, vom Mitverursacher zu einem wichtigen Teil der Lösung in der Klimakrise werden.

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