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Blogbeitrag von Nina Vladović vom 13.06.2024

Miteinander über Unterschiede reden, um Gemeinsamkeiten zu finden

Miteinander über Unterschiede reden, um Gemeinsamkeiten zu finden

Um einander näher zu kommen, müssen wir zuerst lernen, unsere Unterschiede anzuerkennen und miteinander offen über diese zu reden. Dies ist ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft.  

Seit bald 15 Jahren lebe ich in der Schweiz. Mit meiner Einwanderung wurde ich der Gruppe der Personen mit Migrationshintergrund zugeordnet. Eine Gruppe, die alles andere als einheitlich ist. Und so gehöre ich zwar dieser Gruppe an und doch unterscheidet sich meine Lebensrealität von jener der anderen knapp drei Millionen Menschen mit Migrationshintergrund. Ich bin eine cis-hetero Frau, im ehemaligen Jugoslawien geboren und weitgehend im postsozialistischen Kontext sozialisiert. Ich stamme aus einer Arbeiterfamilie. Meine Eltern haben mir Bildung und damit sozialen Aufstieg ermöglicht. Heute habe ich eine existenzsichernde Arbeit, die meiner Qualifikation entspricht. Ich habe keine Behinderungen. Inzwischen besitze ich einen Schweizer Pass und geniesse damit Rechte, die viele Menschen in diesem Land nicht haben.

Warum schreibe ich das? Weil dies und vieles mehr die Position prägt, die ich in dieser Gesellschaft einnehme. Eine Position, die in sich widersprüchlich ist, weil sie mit Marginalisierungen und Privilegien einhergeht. Ich schreibe das, weil diese Position und meine persönliche Biographie meine Perspektiven und damit auch mein Verständnis dieser Welt prägen. Sie ermöglichen es mir, bestimmte Dinge zu sehen, aber sie tragen auch dazu bei, dass ich bestimmte Dinge übersehe und nicht darüber nachdenke.

Nina Vladovic
Nina Vladović

Nina Vladović arbeitet bei HEKS als Verantwortliche für die Fachstelle Inklusion und Gesellschaftspolitik

Unterschiede anerkennen und über sie reden …

Es geht mir nicht darum, die Unterschiede zu betonen, um zu trennen und zu spalten. Ganz im Gegenteil. Ich halte es für wichtig, unsere unterschiedlichen Positionen zu reflektieren, um uns einander anzunähern. Es gibt Unterschiede, auch wenn wir nicht darüber sprechen. Die Behauptung, es gäbe sie nicht und wir seien alle gleich, entspringt oft dem Privileg, über diese Unterschiede nicht nachdenken zu müssen. So wird verschleiert, dass in unseren Institutionen, auf dem Wohnungsmarkt, auf dem Arbeitsmarkt immer noch Ungleichheiten bestehen, wenn es um den Zugang geht.

Wir brauchen mehr Räume, in denen wir über diese Unterschiede sprechen können. Das wurde mir bewusst, als ich im Rahmen meiner Arbeit Gespräche zum Thema Zugehörigkeit organisierte. Es kamen verschiedene Geschichten von Menschen in den Raum, darunter auch Geschichten von Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen. Für viele dieser Menschen, die ihre Geschichten erzählten, war es wichtig, darüber zu sprechen. Ihre Lebensrealitäten und -erfahrungen - und somit sie selbst - wurden sichtbar.  

Genau das ist für die Antidiskriminierungsarbeit unerlässlich. Nicht nur die verschiedenen Lebensrealitäten sichtbar machen, sondern möglichst viele Perspektiven einbeziehen, um voneinander zu lernen. Oder wie es die deutsche Journalistin und Autorin Hadija Haruna-Oelker in ihrem Buch «Die Schönheit der Differenz: Miteinander anders denken» ausdrückt: Lernen, «die Perspektiven der Anderen in uns zu tragen». Die Erfahrungen vieler miteinander verknüpfen und so gegenseitiges Verständnis schaffen. Kein Mensch auf dieser Welt kann alles sehen und alles denken. Der Austausch der Perspektiven und Erfahrungen kann helfen, Leerstellen zu füllen, Ungerechtigkeiten aufzudecken und ihnen entgegenzuwirken.   

… um Gemeinsamkeiten zu finden 

Die US-amerikanische Schriftstellerin und Aktivistin Audre Lorde betont, wie wichtig es sei, Unterschiede zu benennen, um sie ausdrücklich anzuerkennen und gleichzeitig nicht zuzulassen, dass sie Menschen trennen. Denn, «[…] nicht die Unterschiede lähmen uns, sondern das Schweigen. Und es gibt Unmengen von Schweigen zu brechen», so Lorde. Die Frage ist also: Wie können wir über unsere Unterschiede sprechen, um uns näher zu kommen? Und wie kann der Austausch über diese Unterschiede dazu beitragen, dass wir uns stärker verbunden fühlen? Dazu ist es wichtig, die eigene Blase zu verlassen. Denn es sind die Begegnungen mit Menschen, die andere Perspektiven haben, die uns helfen, unsere Vorstellungen zu reflektieren, zu hinterfragen und manchmal auch zu verändern. Und genau hier beginnt die «Schönheit der Differenz» zu wirken. Denn die Perspektive der anderen in sich zu tragen und aus der eigenen Betroffenheit herauszutreten, ist zentral, um solidarisch denken und handeln zu können. Und um einer inklusiven Gesellschaft ein Stück näher zu kommen.

«Reden wir nicht übereinander, sondern miteinander»

Wir alle können im Alltag zu einer inklusiven Schweiz beitragen. Dies beginnt damit, dass wir miteinander reden, einander offen begegnen und erfahren, was uns das Gefühl gibt, Teil dieser Gesellschaft zu sein. Diesen Austausch, miteinander ins Gespräch kommen will HEKS mit seiner Kampagne 2024 fördern: «Reden wir nicht übereinander, sondern miteinander».

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