Vom neu gepflanzten Baum zum Klimazertifikat
Diese Berechnungen sind komplex und kostspielig.
Der Projektbetreiber – profitorientiert oder nicht – verantwortet die Planung und Umsetzung der Pflanzung. Um sein Projekt auf den Kohlestoffmarkt zu bringen, muss er berechnen, wieviel CO2 die neu gepflanzten Bäume in welchem Zeitraum speichern können. Man geht davon aus, dass ein Baum nach der Wachstumsphase pro Jahr im Schnitt rund 25 Kilogramm CO2 der Atmosphäre entzieht. Wieviel CO2 der Eukalyptus in Sierra Leone tatsächlich speichern kann, hängt von verschiedensten Faktoren ab, die es abzuschätzen und zu berücksichtigen gilt. Diese Berechnungen sind so komplex und kostspielig, dass manche Projektbetreiber:innen Drittunternehmen einsetzen, welche die Kalkulationen für sie übernehmen.
Sie sind auch fehleranfällig. Denn sie beruhen auf Schätzungen und Zukunftsprognosen. Niemand kann mit Sicherheit voraussagen, wie sich der Eukalyptus und seine Umgebung entwickeln, und ob der Baum nicht einem Feuer, einer Dürre oder Schädlingen zum Opfer fällt oder gar doch abgeholzt wird. So ist die Gefahr gross, dass die tatsächlich im Baum gespeicherte CO2-Menge vom erwarteten Resultat abweicht.
Die CO2-Bilanz unseres Eukalyptus hat jetzt ein Preisschild.
Im Anschluss beauftragt der Projektbetreiber eine unabhängige Zertifizierungsorganisation, die berechnete CO2-Bilanz zu bestätigen und sein Projekt zu zertifizieren. Bekannte Zertifizierungen sind beispielsweise der «Voluntary Carbon Standard» der US-amerikanischen Organisation «Verra» oder der «Gold Standard», verwaltet von der gleichnamigen Stiftung mit Sitz in Genf.
Diese Prüfung ist nicht weniger herausfordernd als die ursprüngliche Berechnung. Verschiedene Studien zeigen dann auch auf, dass viele CO2-Speicherprojekte der Atmosphäre weniger Treibhausgase entziehen als in den Zertifikaten ausgewiesen wird. Dennoch: Die durch den Eukalyptus in Sierra Leone gemäss diesen Schätzungen zu erwartende CO2-Speicherung wird mit der Zertifizierung auf dem globalen Kohlenstoffmarkt verkäuflich. Die CO2-Bilanz unseres Eukalyptus hat jetzt ein Preisschild.
Sie verkaufen die Klimakompensationszertifikate an Unternehmen.
Nun kommen sogenannte Broker wie die beiden Schweizer Stiftungen «MyClimate» und «South Pole» ins Spiel. Sie verkaufen die Klimakompensationszertifikate an Unternehmen meist im Globalen Norden – an die finalen «Konsument:innen» der Zertifikate. Die CO2-Bilanz des Eukalyptusbaums kann nun ähnlich wie ein Wertpapier gehandelt werden. So wissen die Projektbetreibenden nicht, wer die Gutschriften ihres Baumes kauft und am Ende in seiner CO2-Bilanz ausweist. Die Endkonsumentin des Zertifikats kann nun, rein rechnerisch gesehen, eine Netto-Null-Bilanz ausweisen, sich CO2-neutral nennen und kommunizieren: «Sie können bedenkenlos bei uns konsumieren, wir schaden dem Klima nicht.»
Zurück zum Eukalyptusbaum in Sierra Leone. Er speichert in jedem Fall CO2, solange er steht. Das ist gut für das Klima. Weniger gut ist, dass seine CO2-Bilanz nun monetarisiert ist und gegen den Ausstoss einer Firma aufgewogen wird. Denn zu oft dient Klimakompensation in Form von CO2-Speicherung als Vorwand, um dringend nötige Emissionsreduktionen aufzuschieben.
Auf wessen Land steht der Baum?
Und die Rechnung geht auch auf einer anderen Ebene nicht auf: Ginge es nach den immer zahlreicher werdenden Netto-Null-Versprechen von Firmen und Staaten, würden neben unserem Eukalyptus bald nicht nur Tausende, sondern Hunderttausende weitere Bäume wachsen. Doch auf wessen Land? Weil sich Klimakompensation zunehmender Beliebtheit erfreut, steigt der Landbedarf für Aufforstung in Sierra Leone und anderen Ländern der Welt – vor allem im Globalen Süden – rasant an. Lansana Sowa von Silnorf sagt schon heute: «Es kommt immer häufiger vor, dass Unternehmen Kleinbauernfamilien für Klimakompensationsprojekte ihr Land wegnehmen, ohne Verhandlungen oder gültige Verträge.»
Diese Entwicklung beunruhigt mit ihm auch Silnorf und HEKS. Denn die beiden Organisationen wissen aus langjähriger Erfahrung, was solch grossflächige Landnahmen – ob für Palmöl, Zuckerrohr oder Kautschuk – für die Kleinbauernfamilien heissen, die auf und von diesem Land leben. Wie laufen diese Landdeals ab? Welche Folgen haben sie für die lokalen Gemeinschaften und wie fordern die Menschen ihre Rechte ein? Das wird Silva Lieberherr, HEKS-Fachperson für das Recht auf Land, im nächsten Blogbeitrag erzählen.